Dr. J. C. Rossaint
Der Bundesbruder Dr. Rossaint ist ein besonderes Beispiel für
den Widerstand im katholischen Raum während der Naziherrschaft.
Josef Rossaint, geb. am 5.8.1902 in Herbesthal/Krs. Eupen (Belgien),
Besuch des Realgymnasiums, Studium der Philosophie und Theologie.
Ab 1927 ist Josef Rossaint als Kaplan, zuerst in Oberhausen und ab
1932 in Düsseldorf tätig.
1928 wird er Mitglied des Friedensbundes Deutscher Katholiken. 1929
tritt Josef Rossaint der Zentrumspartei bei. Als die Zentrumspartei
dem "Ermächtigungsgesetz" zustimmt, tritt er aus unmittelbarem Protest
aus.
Am 6.2.1936 wird Josef Rossaint verhaftet und am 28.4.1937 wegen Vorbereitung
zum Hochverrat zu 11 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust verurteilt.
Am 01.09.1989 Verleihung des Aachener Friedenspreises.
Er starb im Jahre 1991.
Josef Rossaint berichtet:
1928 trat ich dem Friedensbund Deutscher Katholiken bei, dessen Oberhausener
und Düsseldorfer Gruppen ich aufbaute. Der Friedensbund trat
gegen die Remilitarisierung an. "Wir sprechen der deutschen Regierung
das Recht ab, den Weg der Abrüstung zu verlassen", erklärte der
Generalsekretär des Friedensbundes, Paulus Lenz. Dies war angesichts
des Ausgangs des Ersten Weltkrieges sehr verständlich.
Dem Friedensbund gehörten ca. 15.000 Mitglieder, darunter manche
Geistliche und auch Bischöfe an. Wir haben eine Menge Veranstaltungen
organisiert, z.B. mit der Katholischen Weltjugendliga und dem Internationalen
Versöhnungsbund. 1933 wurde der Friedensbund verboten. Alle, die sich
für den Frieden einsetzten, galten als Defätisten. Wir haben
nach 1933 noch Zettel mit Parolen gegen den Krieg geklebt.
In dem Prozess hat das eine Rolle gespielt. Uns wurde vorgeworfen,
dass wir uns pazifistisch im übelsten Sinne betätigten und sogar
Zettel verbreiteten, deren Inhalt sich „gegen den Wehrwillen richtete".
Meine Tätigkeit in der Katholischen Jugend, ich war unter anderem
auch bei den Sturmscharen, hing mit meinem Beruf zusammen. Die Sturmscharen
waren jugendbewegt, bündisch geprägt. Die bündische
Jugend, die noch vor dem Ersten Weltkrieg, 1913 auf dem Hohen Meißner
ihr Programm entwickelte, war antibürgerlich im moralisch weltanschaulichen
Sinne. Wir in den Sturmscharen vertraten, wie auch manche andere
Jugendorganisation, den Gedanken der Aufgeschlossenheit, auch gegenüber
den Jugendorganisationen der Arbeiterbewegung. So habe ich einmal
an einem Zeltlager der sozialdemokratischen Jugend, der SAJ, auf der Rheininsel
Namedy teilgenommen. Das war damals gar nicht so selbstverständlich.
Ich weiß noch gut, als ich 1931 oder 1932 der kommunistischen Jugend
in einem Brief mitteilte, dass ich einmal zu einer Versammlung von ihnen
eingeladen werden möchte, gab es dort große Diskussionen darüber,
ob man einen Kaplan einladen könne. Sie haben mich dann doch
eingeladen. Ich will damit nur verdeutlichen, dass damals noch sehr
viel Abgeschlossenheit bestand, die manchem Vorurteil Vorschub leistete.
Wir von den Sturmscharen waren zwar konfessionell gebunden, aber nicht
ghettomäßig abgeschlossen. Es bestand Aufgeschlossenheit
zu anderen jugendbewegten Organisationen. 1933 kamen die Verbote.
Zum Beispiel wurde den Angehörigen der konfessionellen Jugendverbände
am 19. März auf Grund des § 14 des Polizeiverwaltungsgesetzes
in Verbindung mit der Verordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28.
Februar 1933 für den Regierungsbezirk Köln im Interesse der öffentlichen
Ruhe, Sicherheit und Ordnung bis auf weiteres untersagt:
1. Jedes geschlossene Auftreten in der Öffentlichkeit.
2. Das öffentliche Tragen von Bundestracht oder von Kleidungsstücken
oder Abzeichen, die sie als Angehörige der konfessionellen Jugendorganisationen
kenntlich machen.
3. Das Mitführen oder Zeigen von Wimpeln oder Fahnen in
der Öffentlichkeit.
4. Der öffentliche Vertrieb oder das öffentliche Verteilen
von Presseerzeugnissen konfessioneller Jugendverbände (Jugendzeitungen,
Jugendzeitschriften).
5. Jede sportliche oder volkssportliche oder geländesportliche
Betätigung innerhalb der konfessionellen Jugendverbände.
In anderen Bezirken erfolgten ähnliche Verbote. Die Kölner
Pfarrgeistlichkeit erließ dagegen einen Aufruf:
"Mit heiliger Entrüstung haben wir am letzten Sonntag festgestellt,
dass katholische Jugend, die sich zur Andacht in verschiedenen Kirchen
versammelt hatte, vor der Kirche in unerträglicher Weise provoziert
und misshandelt wurde.
Mit heiliger Entrüstung haben wir am letzten Sonntag erlebt, dass
man vielerorts in Köln in St. Agnes, in St. Aposteln, in St. Ursula,
in Zollstock nicht zurückschreckte vor der Heiligkeit des Gotteshauses.
Dass man mancherorts nicht zurückschreckte vor der Heiligkeit des
Namens Jesu Christi, las man doch an auffallender, ja an heiliger Stelle:
Chi Ro (die Anfangsbuchstaben des Namens Christi) krepiert.
Mit heiliger Entrüstung haben wir Schmählieder gehört
auf die junge Kirche und ihre Priester...
Auch heute noch gilt das Wort unserer Bischöfe: Voll froher Hoffnung
blicken wir hin auf unsere blühenden Jungmännervereine und Kongregationen.
Mit wehenden Fahnen, mit blütenweißen Bannern rücken sie
von allen Seiten ein in die neue Zeit und schreiten in heiliger Begeisterung
siegreich durch die Ärgernisse, Gefahren und Versuchungen der bösen
Welt. Haltet rein und hoch euer Banner, das Banner der IMMACULATA: Es leuchtet
euch zum Sieg und Frieden, zum zeitlichen und ewigen Glück... Da wir
keine andere Möglichkeit haben, erheben wir von der Kanzel aus vor
dem Angesichte Gottes und vor der hier versammelten Gemeinde feierliche
Anklage und legen entschiedene Verwahrung ein. Das Wirken der katholischen
Jugend liegt offen vor euer aller Augen. Gott der Herr und ihr Gläubigen
gebt unserem Gewissen Zeugnis, dass jene Verleumdungen, mögen sie
auch berghoch gehäuft werden, nicht an unsere Fußsohlen heranreichen.
Wir lassen uns nicht beirren und werden weiterwirken, dass Deutsche katholische
Jugend bleibe die Jugend Christi!
Köln, den 4.2.1934
Die Pfarrgeistlichkeit der Stadt Köln"
Dieser Aufruf wurde auch in den Sturmscharen verbreitet. Vier
Sturmschärler aus Oberhausen klebten den Aufruf in der Nacht in der
ganzen Stadt. Daraufhin wurde die Oberhausener Sturmscharführung
verhaftet.
Allerdings gab es ausgesprochen politischen Widerstand in den Sturmscharen
nur bei einzelnen. Aber es gab eine grundsätzliche Ablehnung
der Verfolgung Andersdenkender, eine Ablehnung der Judenhetze, eine Ablehnung
des Kriegskurses. Es war nicht so, dass das jeder nur in seinem Inneren
hatte, sondern das wurde auch formuliert.
Das Konkordat zwischen dem Vatikan und dem Deutschen Reich erlaubte
den katholischen Jugendverbänden nur die religiöse Betätigung.
Ein gewisser Betätigungsraum blieb also, der auch wertvoll war, denn
es ist ja nicht gleichgültig, ob eine Anschauungsart übrig bleibt.
Und - wie es auch nicht anders sein kann - war die religiöse Betätigung
mit politischen Elementen durchsetzt.
Die Sturmscharen waren ja quasi seit 1933 verboten; wandern konnten
wir nicht mehr in Deutschland, also mussten wir ins Ausland fahren. 1934
haben wir eine vierzehntägige Fußwanderung durch Eupen-Malmedy,
das zu Belgien gehörte, gemacht.
Auf diese Art und Weise konnten wir die Lebensformen der Sturmscharen
noch längere Zeit aufrechterhalten. Wir haben auf diesen Wanderungen
über vieles diskutiert, auch über den Nationalsozialismus, mit
dem wir ja nun zu tun hatten.
Unter dem Thema: Was kann man gegen den kommenden Krieg tun, trafen
wir uns in Düsseldorf und Köln ein paar Mal mit Vertretern des
verbotenen Kommunistischen Jugendverbandes. Ich hatte ja schon vor
1933 Versammlungen des Kommunistischen Jugendverbandes besucht. Mir
ging es darum, die Glaubwürdigkeit christlicher Bemühungen und
den geschichtlichen Wert des Christentums zu dokumentieren und mitzuhelfen,
dem Verständnis zwischen Christen und Sozialisten zu dienen.
Die Tatsache der Massenerwerbslosigkeit um 1930 hatte ja auch innerhalb
der katholischen Jugend zu Überlegungen geführt. Die Erwerbslosen
waren überwiegend Anhänger der "Linken". Ich selber habe
Klubs mit so seltsamen Namen wie "Piele-Klub", "Dickes Reis", "Baracken-Kuzorras"
oder "Aschensport" organisiert.
Dazu kamen Erfahrungen nach 1933. Ein Mann, der bei mir handwerkliche
Arbeit verrichtet hatte, musste nach Holland emigrieren. Ich schickte
ihm etwas Geld, Schuhe und Lebensmittel. Eine Frau erzählte
mir, ihr Mann sei in der Haft totgeschlagen worden, die Polizei habe ihr
aber vorgelogen, er habe sich erhängt. Sie zeigte mir seine
Hose, die sie zurückgeschickt bekommen hatte. Auf der Hose waren
noch Fußtritte von frisch gewichsten Schuhen sichtbar. Es war
damit zu sehen, wie er traktiert worden war. Ich habe darüber
auch mit anderen gesprochen. Im Prozess wurde das als Gräuelpropaganda
ausgelegt. Obwohl es stimmte, war es strafwürdige Gräuelpropaganda.
Die Angriffe des Nationalsozialismus gegen die Arbeiterschaft und alle
Andersdenkenden wurden immer massiver und die Abdrosselung aller Lebensäußerungen,
die mit den ihren nicht übereinstimmten, immer bedrohlicher.
Es begann mit Ohrfeigen und Fußtritten auf der Straße, die
von SA-Leuten freigiebig und im Bewusstsein ihres Sieges verpasst wurden,
wenn die Hakenkreuzfahne von Passanten nicht gegrüßt wurde.
So entsinne ich mich eines Schreinermeisters aus Oberhausen, der von Männern
einer vorbeimarschierenden braunen SA-Kolonne in die Gosse hineingeschlagen
wurde und sein ganzes Leben lang unter einem Gehörschaden litt.
Diese Gewaltpraktiken endeten in so genannter Schutzhaft mit unmenschlichen
Quälereien, Totprügeln und Erschießen auf der Flucht. 1929
war ich in die Zentrumspartei eingetreten. Damals haben viele junge
Katholiken, hauptsächlich von der Jugendbewegung beeinflusste und
nun älter geworden oder geformt durch die pazifistischen Einsichten
und Erfahrungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg das Bestreben gehabt,
politisch wirksam zu werden. Wir bildeten lose Kreise, in denen neben
religiösen, geistigen und kulturellen Problemen auch immer mehr politische
Fragen behandelt wurden. Hitlers "Mein Kampf" hatte ich schon früh
gelesen. Auch andere Teilnehmer dieser Kreise hatten sich mit den
verschiedenen politischen Strömungen und der Massenarbeitslosigkeit,
die gegen Ende der Weimarer Republik immer größer wurde, auseinander
gesetzt und waren unzufrieden mit der Zentrumspartei, weil sie die nach
unserer Auffassung wichtigsten Zeitaufgaben, worunter auch die Umgestaltung
der Gesellschaft verstanden wurde, nicht in Angriff nahm. Wir bildeten
mit jungen Menschen aus dem ganzen Reich einen Arbeitskreis, der sich meist
in Altenberg traf. Zu unseren Diskussionen luden wir Referenten,
z.B. Professor Dessauer, Walter Dirks oder Heinrich Mertens ein, die entweder
selbst dem Kreis angehörten oder seine Bemühungen begrüßten.
Am 23. März 1933 stimmte die Zentrumspartei dem "Ermächtigungsgesetz"
zu, das die Regierung ermächtigte, auch ohne den Reichstag Gesetze
zu erlassen. Noch am gleichen Tag trat ich aus der Zentrumspartei
aus. Pfingsten 1934 traf sich unser Kreis das letzte Mal in Bendorf
am Rhein. Wir gaben uns keinen Täuschungen hin und waren der
Meinung, dass der Nationalsozialismus nur noch außenpolitisch überwunden
werden konnte. Aber auch im Reich musste man etwas dagegen tun.
All diese Erfahrungen und Überlegungen führten auch zu Kontakten
zum Kommunistischen Jugendverband. Was kann man gemeinsam gegen den
Kriegskurs tun, war die Frage. Es kam zu einigen Kontakten auf Funktionärsebene.
Was daraus geworden wäre, weiß ich nicht. Die ersten Ansätze
wurden durchkreuzt durch relativ frühe Verhaftungen von Leuten aus
dem Kommunistischen Jugendverband und durch unsere Verhaftungen.
Damals war das - ich kann es nicht anders nennen - idiotisch, dass die
meisten Organisationen meinten, die Nazis allein besiegen zu können.
Über fünfzig Personen aus der Sturmschar und dem Katholischen
Jungmännerverband wurden im Februar 1936 verhaftet. Ein Schauprozess,
der dann ein Jahr später vor dem Volksgerichtshof in Berlin stattfand,
wurde vorbereitet. Insgesamt wurden sieben Personen angeklagt.
Die anderen, die mit mir in Verbindung standen oder von denen die Gestapo
Derartiges vermutete oder Kapläne, die ihre Meinung gesagt hatten,
wurden wieder freigelassen. Manche waren nur acht oder vierzehn Tage
in Haft, einige jedoch bis zu einem Jahr. Sie haben sich, auch in
meinem Prozess, tapfer verhalten. "Da scheint ja eine geheime Regie
am Werke zu sein", sagte der Senatspräsident während des Prozesses,
als er aus einigen Sturmschärlern nicht herausbekam, was er gerne
herausbekommen hätte.
Wegen Vorbereitung zum Hochverrat unter erschwerten Umständen
wurde ich zu elf Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust verurteilt.
Reichssturmscharführer Franz Steber wurde zu fünf Jahren, Hermann
Jülich zu zwei Jahren und Kaplan Kremer vom Friedensbund Deutscher
Katholiken zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Die Hauptabsicht
dieses Prozesses war, uns als Kommunistenfreunde und Defätisten zu
denunzieren und damit den Katholizismus zu treffen. Das kann man
sehr gut an der Presseberichterstattung erkennen.
Die Nazis hatten ja nun ein Beispiel, das in ihre Propaganda passte.
Es stimmte, dass sich Funktionäre der Katholischen und Kommunistischen
Jugend, getroffen hatten. Es stimmte, dass wir gegen die als unheilvoll
erkannte Rüstung Stellung bezogen hatten und für das Recht, unsere
Auffassungen zu äußern, eintraten. Aber die Nazis hatten
sich insofern verrechnet, dass sie den großen Schlag gegen den Katholischen
Jungmännerverband nicht ganz durchführen konnten. Die Sturmschärler
wurden keine Nazis.
Aus der in Belgien gedruckten und in Deutschland illegal verbreiteten
Zeitschrift "Kameradschaft", Heft 1, 1937:
„... Es lag dem Naziregime vor allem auch daran, die angeklagten Jugendführer
bei ihrer eigenen Gefolgschaft, der Masse der katholischen Jugend, in Missachtung
zu bringen...“ So schreibt der "Angriff" am 13. April 1937: "Der
Fall R. ist mehr als der Fall eines kleinen Priesters. R. ist der
Repräsentant für die Geisteshaltung aller jener Kleriker, die
in der krassen Nichtachtung des eigenen Volkes immer wieder ihre menschliche,
moralische und religiöse Unzulänglichkeit beweisen. Man
muss mit den Fingern auf sie zeigen, sie sind die Schuldigen an Missverständnissen
und Misstrauen.. Quertreiber der Nation und Zutreiber Moskaus."
Aber alle Versuche, Führung und Gefolgschaft zu trennen, scheiterten
an der Wahrheitsliebe der "Sturmscharen".
Das "Verhör" dieser jungen Menschen wurde statt der beabsichtigten
Anklage eine Ehrung für den verfolgten Priester und ein leuchtendes
Beispiel bündischer und katholischer Treue. Selbst der Goebbel‘sche
"Angriff" muss bekennen:
"Alle diese jungen katholischen Zeugen stockten, schweigen in langen
Zwischenräumen und sind alle darauf bedacht, nur ja nicht ihren Kaplan
Dr. Rossaint zu belasten."
Es ist dem Naziregime nicht gelungen, die Geschlossenheit der katholischen
Jugend zu sprengen, und zwischen Führung und Gefolgschaft einen Keil
zu treiben. Das Gegenteil wurde erreicht: "klarer denn vorher weiß
die katholische Jugend, dass unter dem Naziregime kein Leben möglich
ist, das ihrer christlichen Weltanschauung gerecht wird. Und sie
weiß auch, dass dieses Regime den Weg zur wirklichen Volkswerdung
versperrt.
Aus: Präsidium der VVN/Bund der Antifaschisten, Porträt
eines Aufrechten – J.C. Rossaint, Frankfurt a.M., 1982, S. 11ff
Meine Begegnung mit J.C. Rossaint
Ernst Woelki
26.04.1991
Hochwürdiger, lieber Herr Weihbischof!
Gerne komme ich Ihrem Wunsch nach, von meiner Begegnung mit Dr.
Joseph Rossaint zu berichten.
Am 03.03.1938 wurde ich in Köln zum Priester geweiht. Bei
einer Zusammenkunft unseres Semesters im Juni 1939 hatten die Meisten schon
die Versetzung auf eine neue Stelle. Darauf meldete ich mich freiwillig
für einen Einsatz in der ostpreußischen Diaspora. Der
Personalchef, Prälat Hecker, sagte mir: „Ich warne Sie, ich kann bar
zahlen. Ich habe hier ein Schreiben vom Bischof Keller.“ Es war die Kaplanstelle
in Sensburg/Ostpreußen. Ab Juni 194o verwaltete ich alleine
die Pfarrstelle. Vor dem Einfall der Russen schickte ich meine Schwester
nach Bonn ins Elternhaus. Nach dem Einfall der Russen in Sensburg
landete ich in den schrecklichen Wirren als Konchosarbeiter im benachbarten
Kreis Rößel, im Dorf Damerau. Dort konnte ich in jeder Nacht
mit vielen Menschen, die hier zusammen gepfercht waren, die heilige Messe
feiern. Vom 10.-15. März war ich mit über 60 Männern im
Keller des Bahnhofhotels in Bischofstein, der nahe liegenden Kleinstadt,
eingesperrt. Es war so eng, dass keiner liegen konnte. Dort traf
ich auch einen Onkel und einen Vetter von mir. Nachts fanden die
Verhöre statt. Ob einer Parteigenosse war oder nicht. Alle wurden
verletzt herunter gebracht. In der kleinen Uhrentasche der Hose trug
ich in einem kleinen Leinentuch das Allerheiligste bei mir. „Der
Herr wird Euch eingeben, was Ihr sagen sollt.“ In der 5. Nacht wurde ich
nach oben geholt.
„Komm her, Du Schwein!“ Es kam genau die Frage, die Ich mir in der
ganzen Zeit überlegt hatte. „Wie stehst Du zum Kommunismus?“ Meine
Antwort: „Ich bin Geistlicher aus Köln. Bei uns haben junge Kapläne
den Kommunisten gesagt: ‚Ihr seid für die Arbeiter - wir auch!‘ Gibt
es da einen Weg?“ Ich nannte Dr. Rossaint. Nun geschah das Unerwartete:
Der Kommissar antwortete mir: „Was Du sagst, stimmt! Ich kenne Dr. Rossaint“.
Ich wurde nicht geschlagen und in den Keller zurückgebracht. Am nächsten
Morgen wurden fast alle, mit Namen gerufen und weggeführt. Durch das
Kellergitter sah ich Onkel und Vetter in der Kolonne abmarschieren. Ich
bin der Letzte, der die Verwandten gesehen hat. Alle sind umgekommen.
Ich wäre damals auch mitgegangen, da man in der Not mit Verwandten
zusammen bleiben will. Vier mal wurde ich später dann verschleppt,
wagte aber immer die Flucht. Im Jahre 1986 erfuhr ich vom Ordinariatsrat
Joh. Müller die Adresse von Dr. R. Sofort schrieb Ich ihm und bedankte
mich dafür, dass sein Name mir damals das Leben gerettet hat.
Er antwortete mir sogleich:
„Lieber Herr Woelki !
Vielen Dank für Ihren Brief, der mir eine Kreuzung Ihren und meines
Weges mitteilte. Vielleicht darf Ich Ihnen eine kleine Schrift zusenden,
die meine Freunde zum 8o. Geburtstag herausgaben
Beste Grüsse
Ihr Jos. Corn. Rossaint“
Fünf Tage später rief ein Herr von der Französischen
und Israelischen Botschaft an, der mich sprechen wollte. Er blieb
4 Stunden und teilte mir mit, dass sie eine alte Kapelle im Elsaß
gekauft haben und im Gedenken an R. von der Nonne Isar von Schulenburg
ausgeschmückt werden soll. Er lud mich ein, den Einweihungsgottesdienst
zu halten. Auf meine Frage, wie ich dazu komme, zeigte er mir eine Kopie
meines Briefes an Dr. R.. Ich lehnte ab, weil Dr. R. mit den VVN
engagiert ist. Er zeigte Verständnis für meine Ablehnung und
bemerkte: „Uns gefällt das auch nicht!“ Dr. R. wurde damals nicht
zum Tode verurteilt, da der französische Geheimdienst mit allem Einsatz
des Sprechers der Französischen Katholiken, General Cotau, auf den
Prozess Einfluss nahm. Zweimal hatte ich Dr. R. zu einem kurzen Besuch
bei mir.
Herzlichen Gruß
Ernst Woelki
Zum Tode von J.C. Rossaint
Augustinus Frotz, Weihbischof
Liebe Mitbrüder!
Der Name unseres verstorbenen Mitbruders Dr. Joseph Cornelius Rossaint
ist im Kölner Klerus nur noch wenigen Mitbrüdern bekannt.
Denen, die sich seiner erinnern, werden die Jahre 1936 bis 1937 als Höhepunkte
des Vernichtungskampfes des NS-Regimes vor allem gegen die katholischen
Jugendverbände und damit gegen die "verhasste Kirche" wieder lebhaft
bewusst. In Kaplan Rossaint sah die Geheime Staatspolizei einen Hauptagenten
katholischer Jugendführer, die in Verbindung mit Sozialisten und Kommunisten
Vorbereitungen zum Sturz des NS-Staates betrieben. Eine Verhaftungswelle
durch ganz Deutschland war die Folge. Der Prozess Rossaint wurde
zum Schauprozess, zum Katholikenprozess. Der Völkische Beobachter,
Münchener Ausgabe, schrieb am 16.4.1937: Katholisch-kommunistische
Einheitsfront aufgedeckt. Sechs Wochen vor der Verurteilung Dr. Rossaint's
hatte die Enzyklika "mit brennender Sorge" von Papst Pius XI. die NS-Staatsführung
zur Weißglut gebracht. Kardinal Schulte hatte bei klarer Ablehnung
der nationalsozialistischen Weltanschauung und deren Gewaltherrschaft besonders
die Jugendseelsorger zur Besonnenheit ermahnt. Kaplan Rossaint ging
eigene Wege. Ihn hatte eine leidenschaftliche Sorge um die politische
Entwicklung in unserem Staat erfasst, um die Menschen jedweder Gesinnung
in all ihren Nöten. Er suchte die Versöhnung, den Frieden,
auch durch Kontakte mit kommunistischen Organisationen.
Als 1987 das WDR-Fernsehen zu seinem 85. Geburtstag ein Portraitinterview
vorbereitete, wurde ich nach meiner Bereitschaft gefragt, als Zeitzeuge
und damaligen Diözesanjugendseelsorger eine Stellungnahme zu Dr. Rossaint
und zu dem Echo in der damaligen Kirche von Köln abzugeben.
Ich nahm an und verwies auf die letzte Instanz des Gewissens, die Vorsicht
im Urteile gebiete und Verurteilung verbiete.
Dr. Rossaint fühlte sich auch noch 1945 in seinem Gewissen verpflichtet,
seinen Friedenskampf fortzusetzen. Weil er während seiner Inhaftierung
von Kommunisten, von denen viele seine Leidenskameraden waren, lebenserhaltende
Hilfe erfahren hatte, glaubte er, durch sie und ihre Organisationen mehr
als in unserer Kirche und im neuen Staat Verständnis und die ihm notwendig
erscheinende Hilfe zu finden. So wurde er bald zum Vorsitzenden des
Bundes der Antifaschisten gewählt und zu einem der Vizepräsidenten
der Internationalen Förderation der Widerstandskämpfer.
Literarisch und rednerisch war er in ganz Europa einschließlich der
kommunistisch regierten Länder tätig. Dabei war es immer
sein Bestreben, als Christ zu wirken. Er ist bewusst innerlich Priester
geblieben und hat so gelebt. Er konnte sich aber selbst auf Bitten
vieler Freunde hin nicht entschließen, zum Dienst in unserer Kölner
Kirche zurückzukehren.
Nach dem erwähnten Interview im WDR-Fernsehen ging Dr. Rossaint
gerne auf meinen Vorschlag zu einer persönlichen Begegnung ein.
In Bad Neuenahr Bodendorf kam es in seiner Wohnung zu einem guten, sehr
erfreulichen Gespräch. Es fand seine Fortsetzung durch gelegentliche
weiterführende Korrespondenz.
So war es mir eine liebe Pflicht, nach Bekanntwerden seiner schweren
Erkrankung sofort an sein Krankenlager zu eilen. Vom Hausgeistlichen
des Maria-Hilf-Krankenhauses in Bad Neuenahr erfuhr ich dann von der Bitte
des Kranken um das Geschenk der sakramentalen Lossprechung der hl.
Kommunion und der Krankensalbung. Bei einem zweiten Besuch, ein Tag
vor seinem Tode, hatte ich die Freude zu erleben, wie der Patient noch
ganz bewusst ein Grußwort und die Segenswünsche unseres Erzbischofs
Kardinal Meisner entgegennahm. Das Schlusswort des Briefes habe ich
sehr langsam und betont vorgelesen: In der Gemeinschaft unseres Priestertums
grüße ich Sie in herzlicher Verbundenheit ihr Joachim Kardinal
Meisner.
Köln, den 18. April 1991
gez. + Augustinus Frotz
Außer Bbr. Rossaint waren auch noch andere Bbr.Bbr. wegen ihres
unerschrockenen priesterlichen Dienstes und ihres mutigen Eintretens
für Glaube und Kirche harter NS-Verfolgung ausgesetzt:
Otto Kohler (? 31.10.1984; Pfr. i.R.; Träger des Bundesverdienstkreuzes
1. Kl.), 1944/45 in KZ-Haft;
HeinrichRoling (Alterssenior unserer Verbindung), 1937/38 wegen
sog. „Kanzelmißbrauchs“ im Gefängnis.
Ein kürzlich erschienenes Buch über Dr. Rossaint ist ein
wertvoller Beitrag zum Weg deutscher Katholiken in der NS-Diktatur. Neben
der Biographie Rossaints mit vielen unbekannten Einzelheiten bietet zahlreiche
bisher unveröffentlichte Texte und Dokumente von und über Dr.
Rossaint. Interessant sind die zahlreichen Abbildungen.
K.H. Jahnke / A. Rossaint: Dr. Joseph Cornelius Rossaint (1902-1991).
Aus seinem Leben und Werk. 234 S. mit zahlreichen Abb., VAS Frankfurt 1997,
39,80 DM.